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„Komm ruhig näher!“ - Lottas Leben auf Abstand

Von Sandra Roth

„Von Lotta halten wir Abstand, Emil“, sagt mein Nachbar zu seinem Zweijährigen, der folgsam auf dem Laufrad einen großen Bogen um Lottas Rollstuhl fährt. Ich lächele ihm unter meiner Maske zu und rufe: „Danke!“, bevor wir weiter gehen. Lotta dreht den Kopf in Richtung des davon sausenden Kindes. Wie weit ist es gekommen. Habe ich früher alles dafür getan, um Berührungsängste abzubauen, bin ich nun erleichtert, wenn Eltern ihren Kindern beibringen, von meiner Tochter Abstand zu halten.

Es ist Mitte 2020 und wir sind mitten in der Pandemie. Für uns begann sie damit, dass der Kellner unseres Lieblingsrestaurants erzählte, er habe gerade mit seinem Cousin in Italien telefoniert: „Die riegeln Mailand ab, wegen des Virus.“ Wir lachten, als er sich vom Tisch entfernt hatte. Abriegeln, wegen eines Virus, sicher doch. Nahmen wir Corona erst sehr leicht, nahmen wir es ein paar Wochen später umso ernster. Die Zahlen stiegen, die Schulen schlossen und ich hörte nun im Geiste sehr oft das Piepen des Monitors, der Alarm schlug, als Lotta im Herbst zuvor mit Lungenentzündung im Krankenhaus lag. Zu wenig Sauerstoff im Blut – nach einem stinknormalen Virus. Bestimmt wäre Corona sehr viel gefährlicher für sie, da waren nicht nur wir, sondern auch unsere Ärzte sich sicher. Wer aufgrund einer komplexen Mehrfachbehinderung sowieso schon schlecht abhusten kann, der sollte nicht mit Covid kämpfen müssen. Würden die Ärzte mich zu ihr lassen, sollte sie infiziert im Krankenhaus liegen? Plötzlich ist die Angst wieder da, die wir so lange gebändigt glaubten. Habe ich früher die Tage ohne epileptische Anfälle gezählt, zähle ich nun die Tage ohne Kontakte zur Außenwelt.

Wir kennen das, sage ich mir, dann ist eben wieder alles anders, von jetzt auf gleich. Wir haben das schon mal geschafft, wir schaffen es wieder. Habe ich früher die besten Pürierstäbe recherchiert, als klar wurde, dass Lotta nicht kauen kann, werde ich nun zum Experten für die schwer zu kriegenden FFP2-Masken. Habe ich früher den ersten Rolli gefeiert, freue ich mich nun über gut riechendes Desinfektionsmittel. Wir versichern uns gegenseitig, dass wir all das mit niemand anderem erleben wollten als mit uns. Wir vier sind uns genug. Lottas Bruder Ben schlägt vor, jeden Morgen denjenigen im Haus zu bestimmen, der noch die beste Laune habe: „Der muss dann die anderen aufheitern.“ An den meisten Tagen ist das Lotta. Sie scheint glücklich zu sein, endlich den ganzen Tag mit uns allen zusammen zu sein.

Wir haben es leicht, verglichen mit vielen anderen. Wir haben einen Garten, jeder hat ein Zimmer, wir kaufen noch einen zweiten Laptop. Mein Mann Harry kann von zuhause arbeiten, sein Job ist durch die Pandemie nicht in Gefahr. Wir machen Physiotherapie per Face Time, wir legen Trinkgeld auf die Matte vor der Tür, bevor der Lieferservice vom Supermarkt kommt, mit einem Zettel voller Smileys und der Aufschrift: „Einfach hier abstellen, danke!“ Bens Lieblingskekse können wir online nicht bestellen, aber unsere Nachbarn legen sie auf den Gartenzaun: „Sagt einfach, was ihr noch braucht.“ Lottas Lehrer schicken immer häufiger Zoom-Einladungen, ihre Klassenlehrerin wird zur Youtuberin, sie spielt Gitarre, singt die Klassenlieder und filmt den Klassenhund.

Eine Freundin schickt mir per WhatsApp den Tipp, dass es beim Feinkostladen im Industriegebiet einen Drive Through gäbe: „Die haben sogar noch Toilettenpapier!“ Als ich anrufe, stellt sich schnell raus, dass man zwar vorbestellen kann, aber dennoch zur Kasse gehen muss. Ins Innere, wo die Aerosole sind. „Danke, aber danke nein. Das kommt für uns nicht in Frage“, sage ich. „Meine Tochter gehört zur Risikogruppe.“ Fünf Minuten später klingelt unerwartet mein Handy, der Mitarbeiter von eben: „Fahren Sie einfach auf den Parkplatz und machen Sie den Kofferraum auf.“ „Was hast du denen erzählt?“, fragt mein Mann Harry später lachend, als er mit dem Auto zurückkommt. „Die waren komplett vermummt, mit Visier und Handschuhen und haben die Tüte förmlich in den Kofferraum geschmissen.“

Risikogruppe – das klingt eher gefährlich, als gefährdet. Vulnerabel trifft es auch nicht. Früher habe ich versucht, den Leuten zu zeigen, was für ein Wirbelwind Lotta ist, das wilde, lustige, charmante Mädchen, das eben zufällig im Rollstuhl sitzt. Jetzt reduziert die Welt Lotta darauf, dass sie schlecht abhusten kann - und ich mache mit. Man muss sie schützen. Man muss sie von anderen fernhalten, zu ihrem eigenen Wohl. Draußen spielen die Nachbarskinder trotz aller Vorschriften zusammen, ihr Lachen und Schreien dringt herein, Lotta sitzt drinnen mit mir und lächelt in Richtung des offenen Fensters.

Es reicht.

Die Zahlen sinken, es wird langsam Sommer 2020 – und wir lassen die Schulbegleiter rein, deren Einsatz zur „Unterstützung des Distanzunterrichts“ bewilligt wurde, erst zögerlich nur eine, dann alle drei. Sie bringen keine Viren mit, dafür aber Entlastung und Freude. Ich höre eine von ihnen mit Lotta durch das ganze Treppenhaus hinauf kichern, während ich oben auf den Stufen sitze und das erste Mal seit Monaten arbeiten kann. Erst jetzt merke ich, wie anstrengend es für mich und Harry war, von jetzt auf gleich Lottas Pflege komplett allein zu schultern. Erst als ich meine Schultern wieder entspanne, merke ich, wie weh sie tun. Andere treten wieder in unser Leben und ich merke plötzlich, wie sehr sie gefehlt haben. Wir vier sind nicht genug – wir brauchen auch andere Menschen in unserem Leben. Nicht nur, um mitanzupacken, auch Nähe, Austausch, Freundschaft, all das geht nur begrenzt per Zoom.

„Komm ruhig näher!“ - Lottas Leben auf Abstand
„Komm ruhig näher!“ - Lottas Leben auf Abstand
Acht Füße treffen sich ausgestreckt in der Mitte des Bildes.

Nach kurzer Bedenkzeit schicken wir Lotta wieder zur Schule, das Hygienekonzept habe ich vorher der Kinderärztin vorgelegt. Lotta lacht lauthals auf, als wir das erste Mal wieder auf den Schulparkplatz fahren. Sie schien so glücklich all die Zeit, nun wird überdeutlich, wie sehr ihr das dennoch gefehlt hat.

„Lassen Sie Ihr Leben nicht von der Angst bestimmen“, hat mir mal unser Neurologe über Lottas Epilepsie gesagt und das stimmt auch für Corona. Wir versuchen, eine neue Balance zu finden: vorsichtig, nicht ängstlich. Wechselunterricht, den Sommerurlaub buchen, im vollen Stadtwald spazieren gehen und nicht mehr ins Gebüsch ausweichen, wenn ein Jogger kommt. In Lottas Klasse gibt es den ersten Corona-Fall. Sie steckt sich nicht an. Wir fahren nach Bayern und sitzen im Biergarten, mit weitem Abstand zu anderen. Wir mieten ein Elektroboot und springen in den See. Ich atme langsam die Luft aus, die ich offenbar über Monate angehalten hatte, ohne es zu merken.

Als der Herbst 2020 kommt und die Zahlen wieder steigen, kommt die Angst wieder, ich halte sie mit Statistiken in Schach: nur wenige Kinder erkranken schwer. Doch sterben so wenige, weil Kinder allgemein geschützt sind – oder weil die Kinder mit Vorerkrankung so konsequent abgeschirmt werden? Ein Arzt sagt mir, dass mein Mann wohl ein höheres Risiko habe als Lotta. Und das soll mich beruhigen? „Maske!“, rufe ich jetzt Harry ständig hinterher. „Jaa!“, ruft er. „Ich passe doch auf.“ Was wäre, wenn wir beide schwer erkrankten – wer würde dann für Lotta sorgen? Wir setzen einen langgehegten Vorsatz in die Tat um und machen endlich ein Behindertentestament.

Mittlerweile haben wir das Profi-Stadium erreicht. Wir haben das Desinfektionsmittel gefunden, dass die Haut nicht austrocknet, die FFP2-Masken, die auch Lotta tragen kann, ich höre den piependen Sauerstoff-Alarm des Monitors schon lange nicht mehr. Lotta erlebt den gesündesten Winter ihres Lebens. Keine Infekte, kein Schleim, kein Fieber. „Masken für immer“, sage ich zu Harry. Als wir wieder in den Distanzunterricht wechseln, haben Lottas Lehrer, Therapeuten, Schulbegleiter und wir längst Routine darin. Es ist anstrengend, ich sehne ein Ende der Pandemie herbei, aber wir orientieren uns an Lotta, über die ihre Schulbegleiter in einem Bericht schreiben: „Sie lässt sich nicht beirren.“

Als Harry und ich im Frühjahr 2021 endlich geimpft werden, nach langem Hin und Her, schießen mir im Impfzentrum die Tränen in die Augen. Jetzt bin ich nicht mehr schuld, wenn Lotta krank wird. Auch wenn mein Kopf weiß, dass „Schuld“ bei Krankheit keine Kategorie ist, auch wenn sich mein Gefühl von Sicherheit mit der Delta-Variante später relativieren wird – mein Herz ist und bleibt erleichtert. Ich habe alles getan, was ich konnte.

Fassungslos verfolge ich, wie hart Menschen mit Vorerkrankung um ihre Spritze kämpfen müssen, während ich gleichzeitig andere heiß beneide, deren Kinder mit Behinderung eine Impfung ergattern, da Biontech für ihr Alter bereits zugelassen ist. Lotta wird erst Ende November 12 Jahre alt und an der Reihe sein. Bis dahin müssen wir hoffen, dass möglichst viele sich impfen lassen. All die Menschen um Lotta herum – sie helfen hoffentlich, einen Schutzwall zu bauen, nachdem sie bereits so viel getan haben, um uns zur Seite zu stehen: Die Lehrer mit ihren Anrufen und Videokonferenzen, die Schulbegleiter mit ihren zahllosen guten Ideen und ihrer guten Laune, die Therapeuten, die trotz Distanzunterrichts ihre Dienste in der Schule anboten, die Nachbarn, die einkauften, als wir uns am Anfang noch einschlossen. Doch während einzelne so viel leisteten, hätte gleichzeitig auf politischer Ebene so viel mehr getan werden können: Warum haben beispielsweise immer noch nur wenige Schulräume Luftfilter? In Lottas Schule wird es trotz der neuerdings geltenden Fördermaßnahmen keine geben – denn dort haben alle Räume Fenster. Das soll reichen.

Viele haben so viel verloren in dieser Pandemie, ihre Arbeit, ihre finanzielle Sicherheit, ihre Gesundheit, ihr Liebsten, ihr Leben. Unsere Familie hat so viel Glück gehabt, das alles ist uns erspart geblieben. Was haben wir verloren? Zeit vielleicht, Kontakt – das unbekümmerte Miteinander. Wie lange wird es dauern, bis ich mit Lotta nicht mehr intuitiv zurückweiche, wenn jemand zu nahekommt? Wie lange wird es dauern, bis die Gräben, die wir zu unserem Schutz gegraben haben, zugeschüttet sind?

Seit ein paar Tagen ist Lotta wieder zuhause, da sich jetzt nach den Sommerferien die Corona-Fälle in der Schule häufen. Wir achten wieder auf Abstand. Draußen vor dem Fenster höre ich Emil, er ist mittlerweile drei Jahre alt und auf seinem Laufrad noch schneller geworden. Lotta wendet den Kopf in die Richtung seines Juchzens. „Bald“, sage ich Lotta. „Bald geht das wieder. Wenn du geimpft bist.“ Wir werden rausgehen und wenn Emil wieder einen Bogen fährt, werde ich rufen: „Warte mal, Emil!“ Ich werde die Hand ausstrecken und ihn heranwinken. „Komm doch ruhig näher.“

Über die Autorin:

Sandra Roth lebt mit ihrem Mann und ihren Kindern, die in Wirklichkeit nicht Ben und Lotta heißen, in Köln.

Über das Leben mit ihrer Tochter, die mit einer Mehrfachbehinderung zur Welt kommt, hat Sandra Roth bereits zwei erfolgreiche Bücher veröffentlicht. In „Lotta Wundertüte“ (2013, Kiepenheuer & Witsch) erzählt sie von den ersten drei Jahren mit Lotta. Von der Diagnose während der Schwangerschaft bis zu Lottas ersten Tagen im Kindergarten. Und immer stellt Sandra Roth sich und ihren Lesern die Frage, was eine inklusive Gesellschaft eigentlich ausmacht.

2018 erschien die Fortsetzung „Lotta Schultüte“, ebenfalls bei Kiepenheuer & Witsch. In dieser berichtet Sandra Roth von den Hürden, die sich bei der Suche nach einer passenden Schule für Lotta ergeben. Wie auch schon beim Vorgänger zutiefst berührend und humorvoll.

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