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Menschen mit Komplexer Behinderung– Nicht nur ein Begriff

Von Prof’in Barbara Fornefeld

Kurz und einfach

In diesem Magazin geht es um Menschen mit schweren Behinderungen.
Manche Menschen haben auch mehrere Behinderungen.
Wir verwenden den Begriff „Komplexe Behinderung“.
Komplex bedeutet: Eine Sache ist kompliziert. Sie umfasst viele Dinge.
Den Begriff „Komplexe Behinderung“ hat eine Professorin von der Uni Köln erfunden.
Die Professorin heißt Barbara Fornefeld.
Sie erklärt in ihrem Artikel den Begriff „Komplexe Behinderung“.
Frau Professorin Fornefeld schreibt:
Die Lebens·situation von Menschen mit schweren Behinderungen ist
kompliziert. Die Situation ist komplex.
Darum hat sie den Begriff erfunden: Menschen mit Komplexer Behinderung.
Der neue Begriff schätzt Menschen mit Komplexer Behinderung wert.
Der Begriff stellt nicht die Schwere von ihrer Behinderung in den Vordergrund. Sondern die komplizierte Lebens·situation.
Menschen mit Komplexer Behinderung benötigen im Alltag viel Unterstützung.
Zum Beispiel von ihrer Familie, von Lehrern, von Betreuern, von Pflege·kräften.
Menschen mit Komplexer Behinderung sind also abhängig von vielen anderen
Menschen, die ihnen helfen.
Das macht ihre Lebens·situation so kompliziert.
Viele Menschen mit Komplexer Behinderung können nicht sprechen.
Sie können nicht sagen, wie sie sich ihr Leben wünschen.
Aber es gibt Möglichkeiten, wie sie sich trotzdem mitteilen können.
Zum Beispiel mit einem Talker. Oder mit Gesten.
Die Familie und die Fach·leute müssen ihnen gut zuhören.
Denn Menschen mit Komplexer Behinderung sollen über ihr Leben selbst bestimmen.

Unentwegt läuft Mike Y. vor sich hin prustend durch die Wohnung und lässt sich schwer davon abhalten. Janine M. liegt mit stark angewinkelten Armen und Beinen still in ihrem Pflegebett und scheint ihre Umgebung kaum wahrzunehmen. Philipp S. ist älter geworden. Die Tage im Förderbereich der Werkstatt belasten ihn zunehmend.

Janine M., Mike Y. und Philipp S. – drei Menschen verschiedenen Alters, mit unterschiedlichen Beeinträchtigungen und individuellen Lebensgeschichten. Sie werden als schwerbehindert, schwerstbehindert, mehrfachbehindert oder gar als schwerstmehrfachbehindert bezeichnet.

Doch diese Begriffe sagen wenig über den Menschen und sein Leben aus. Man wird einer Person nicht gerecht, wenn man sie allein von der Schwere ihrer Beeinträchtigung oder der Schwere ihrer Versorgung betrachtet. Es ist darum eine weiterreichende Bezeichnung der Personengruppe notwendig, die stärker die gesamte Lebenssituation berücksichtigt. Dieser Beitrag will zeigen, dass der Begriff Menschen mit Komplexer Behinderung mehr als nur eine andere Bezeichnung ist. 

Menschen wie Philipp S., Janine M. und Mike Y. leben in Abhängigkeit von Unterstützung durch ihre Familien und Fachkräfte. Eltern spielen in der Lebensbegleitung von Menschen mit Komplexer Behinderung eine besondere Rolle. Sie begleiten ihre Kinder durch gesundheitliche und seelische Krisen, halten ihnen sozusagen „die Stange“. Ein stabiles Familiensystem trägt dazu bei, dass älter werdende
Menschen mit Komplexer Behinderung ihre familiären Kontakte nicht verlieren.

In den verschiedenen Institutionen der Behindertenhilfe leisten medizinische, pädagogische und therapeutisch-pflegerische Fachkräfte Unterstützung. Ob Eltern oder Fachkräfte, alle richten sich mit einem eigenen Blick auf den Menschen und seine Bedarfe, lassen ein anderes Bild von der Person
entstehen. Das heißt, im gewissen Sinne prägen Eltern wie Fachkräfte Behinderung mit. Die Einstellung zu einem Menschen beeinflusst das eigene Handeln. Sind Sympathie und Achtung im Spiel, wird die Zuwendung eine andere sein, als wenn die abhängige Person als Belastung empfunden wird. Darum ist die organische Schädigung nicht der einzige Bedingungsfaktor von Behinderung. Einstellungen zu Behinderung und strukturelle Lebensbedingungen beeinflussen ebenfalls. Die Einflussfaktoren sind vielfältig und ändern sich im Verlauf des Lebens eines Menschen, machen Behinderung
zu einem dynamischen Prozess.

Die Bedingungen, unter denen Menschen wie Janine M., Mike Y. und Philipp S. leben, sind überaus komplex und begrifflich schwer zu fassen. Superlative wie schwerstbehindert oder schwerstmehrfachbehindert richten ihr Augenmerk vorwiegend auf die Schädigung und auf das medizinisch- therapeutisch Notwendige. Sowohl die Bedingungen, unter denen der Mensch lebt, als auch seine Fähigkeiten und Interessen, die er als Person mitbringt, bleiben außen vor. Janine M. mag schöne Kleidung besonders, wenn sie türkis ist. Philipp S. liebt die Märchen seiner Kindheit, deren Lieder er gerne mitsingt.

Die Form ihrer Begleitung muss individuell sein. Sie ist abhängig vom Lebensalter, der Biografie und spezifischen Lebenssituation. Das, was im rechtlichen Sinne als Behinderung bezeichnet wird, ist ein facettenreiches, sich im Lebensvollzug änderndes komplexes Phänomen: Menschen mit Komplexer Behinderung.
Gemeint sind Menschen mit geistiger Behinderung und hohem Unterstützungsbedarf, wie beispielsweise Menschen mit

  • kognitiver und körperlicher Beeinträchtigung,
  • geistiger Behinderung und schwierigem Verhalten,
  • schwerer Autismus-Spektrum-Störung,
  • geistiger Behinderung und psychischen Störungen,
  • geistiger Behinderung und Multimorbidität (Mehrfacherkrankung) oder
  • alternde und alte Menschen mit geistiger Behinderung.

Menschen mit Komplexer Behinderung leben in Abhängigkeit von ihren familiären und professionellen Bezugspersonen. Aufgrund der Schwere ihrer physischen, mentalen oder psychischen Beeinträchtigungen benötigen sie intensive Begleitung und Pflege, teilweise bis zu 24 Stunden am Tag.
Sie zeigen vielfach ein erwartungswidriges Verhalten. Ihre Bedürfnisse können sie meist nicht verbal zum Ausdruck bringen, was häufig zu Ausschluss und Isolation führt. Ihre Bedarfe an Diagnostik, Therapie, Pflege, pädagogischer Begleitung, Bildung und Arbeit ergeben sich einerseits aus
den mehrfachen Beeinträchtigungen, zum anderen aus den Barrieren ihrer Teilhabe an der Gesellschaft. Ihre Lebenswirklichkeit ist überaus komplex.

2008 habe ich den Begriff Menschen mit Komplexer Behinderung vorgeschlagen, um auf die Belange dieser Randgruppe und die Komplexität ihrer Lebenslagen aufmerksam zu machen. Komplex ist dabei nicht als Adjektiv zur Beschreibung von Behinderung zu verstehen, sondern als Attribut der Lebensbedingungen von Menschen mit Behinderung (vgl. Fornefeld 2008, 51).

  • Der Name Menschen mit Komplexer Behinderung umfasst verschiedene Personengruppen mit ähnlichen Exklusionserfahrungen.
  • Sie stellen vergleichbare Anforderungen an Familien und Unterstützungssysteme.
  • Der Name Menschen mit Komplexer Behinderung verbindet eine heterogene (uneinheitliche) Gruppe, damit ihre Rechte eingefordert und die Ansprüche Einzelner leichter durchgesetzt werden können. 
In den vergangenen Jahren hat sich der Begriff in Wissenschaft und Praxis durchgesetzt, weil es sich bei ihm eben nicht nur um eine terminologische Neufassung handelt. Mit dem Namen Menschen mit Komplexer Behinderung verbindet sich von Anfang an ein Menschenbild, das von Wertschätzung
und Anerkennung jedes Menschen ausgeht. Diese bilden nämlich die unverzichtbare Voraussetzung für
Teilhabe, die heute in aller Munde ist.

Die Einführung des Bundesteilhabegesetzes hat die Diskussion um die Lebenssituation von Menschen mit Beeinträchtigung angestoßen und das Interesse an Begriff und Verständnis von Menschen mit Komplexer Behinderung verstärkt. In der Diskussion geht es, „um eine menschengerechte Perspektive auf die Betroffenen als Bürger mit gleichen Rechten, um Inklusion im Sinne eines gleichberechtigten Zugangs zu den Feldern der Lebensführung anhand angemessener und wirksamer Maßnahmen“ (Beck & Franz
2019, 147). Es geht um Partizipation, um Teilhabe, die mehr ist als nur Dabeisein. Teilhabe bedeutet Mitgestalten, aktives Beteiligtsein und gestaltende Einflussnahme auf das eigene Leben.

Hierzu dienen auch Förderung, Erziehung und Bildung sowie Arbeit und Freizeitgestaltung. Das setzt wiederum voraus, dass nicht nur Eltern, sondern auch Fachkräfte die Bedürfnisse, Wünsche und Interessen der Menschen mit Komplexer Behinderung wahrnehmen. Sie müssen sich mit ihnen hierüber austauschen, um gemeinsam Möglichkeiten der Umsetzung entwickeln zu können (vgl. Fornefeld 2021,
Dins et. al. 2022).

Kommunikation, Austausch auf Augenhöhe ist eine wesentliche Bedingung zur Ermöglichung von Teilhabe. Methoden, Techniken und Hilfsmitteln der Unterstützten Kommunikation (UK) bieten heute Menschen ohne ausreichende Verbalsprache vielfältige Möglichkeiten, ihre Bedürfnisse auszudrücken und sich mit anderen auszutauschen.

Bezugspersonen und Fachkräfte können viel zu einem gelingenden Leben eines Menschen mit Komplexer Behinderung beitragen, wenn sie sich auf den Dialog mit ihm einlassen, um zu verstehen, welche Themen ihn beschäftigen. Hierbei zeigt sich, welche Interessen eine Person hat und was sie sich für ihr eigenes Leben wünscht. Bedürfnisorientiertes Handeln ermöglicht Teilhabe. Sie trägt zu mehr Lebensqualität der Menschen mit Komplexer Behinderung und ihren Familien sowie zu mehr Arbeitszufriedenheit der
Fachkräfte bei.

Teil einer Gemeinschaft zu sein und an ihr Teil zu haben sind existentielle Bedürfnisse des Menschen, sie gehören zum Menschsein und verlangen immer wieder aufs Neue nach Bestätigung. Leben bedeutet Veränderung: Der Mensch entwickelt sich, mithin auch seine Bedürfnisse und Sichtweisen. Beziehungen
entstehen, brechen ab und andere bilden sich; die Suche nach Anerkennung und Zugehörigkeit beginnt
abermals.

Bildhaft gesprochen ist das Streben nach Teilhabe das ‚Salz in der Suppe‘ des Lebens eines jeden Menschen!

Verwendete Literatur:
Beck, Iris; Franz, Daniel (2019): Personenorientierung bei komplexer Beeinträchtigung. Herausforderungen für Handlungsspielräume und bedarfsgerechte Unterstützungssettings.
In: Teilhabe, 58. Jg., Heft 4/2019, 146-152

Dins, Timo; Smeets, Stefanie; Keeley, Caren (2022): Bedürfnisse im Leben von Menschen mit Komplexer Behinderung. In: Tiesmeyer, Karin/ Koch, Friederike (Hrsg.): Wohnwunschermittlung bei Menschen mit Komplexer Behinderung. Wahlmöglichkeiten sichern.
Stuttgart: Kohlhammer, 66-75

Fornefeld, Barbara (Hrsg.) (2008): Menschen mit Komplexer Behinderung. Selbstverständnis und Aufgabe der Behindertenpädagogik. München: Ernst Reinhard

Fornefeld, Barbara (Hrsg.) (2021): Teil ¬ sein & Teil ¬ haben®. Wünschen – Gestalten – Leben. Wissenswertes zur Teilhabeorientierten Lebensbegleitung Erwachsener mit Komplexer Behinderung

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