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Wenn wir zum Problem werden

Herausfordernde Verhaltensweisen bei Menschen mit Komplexer Behinderung

Von Claudio Castañeda

Kurz und einfach

Manche Menschen können uns nicht sagen, wenn sie Schmerzen haben. Oder wenn es ihnen nicht gut geht. Häufig zeigen sie dann herausforderndes Verhalten. Zum Beispiel schreien sie laut. Oder sie verletzen sich selbst oder andere. Das verstehen wir häufig falsch. Wir denken: Die Person möchte uns ärgern.
In diesem Text geht es darum, dass wir mehr Verständnis und Lösungen für solche Momente brauchen.

Simone H. ist 24 Jahre alt. Sie lebt in einer Wohngruppe und wird im Förderbereich einer Werkstatt betreut. In beiden Lebensbereichen kommt es zunehmend zu herausfordernden Verhaltensweisen. Frau H. schreit lang anhaltend und schrill. Sie kratzt und beißt andere. Die Mitarbeiter:innen beider Lebensbereiche sind inzwischen ratlos. Wie soll es weitergehen? Für die Betrachtung der Situation ist ein
Faktor besonders wichtig: Frau H. gehört zu dem Personenkreis mit Komplexer Behinderung. Wir müssen uns die Frage stellen, ob das tatsächliche Problem Frau H. bzw. ihr Verhalten ist, oder ob nicht ganz andere Faktoren zu dieser Herausforderung führen.

Kommt Unterstütze Kommunikation an Grenzen?

Frau H. kann gehen, sich Dinge nehmen und ist auf den ersten Blick motorisch wenig eingeschränkt. Sie ist dennoch bei den meisten Handlungen ihres Alltags wie Hygiene, Nahrungsaufnahme usw. auf Unterstützung angewiesen.  Darüber hinaus hat Frau H. alleine kaum Möglichkeiten zur Selbstbeschäftigung. Sie ist auf Personen angewiesen, die sie im Alltag unterstützen und daran denken, ihr passende Angebote zu machen.

Frau H. kann nicht sprechen und hat bisher auch keinerlei alternative Möglichkeiten zur Kommunikation aus dem Bereich der Unterstützten Kommunikation (UK). Eine gemeinsame Kommunikation im Sinne eines Austauschs ist daher nicht möglich. Frau H. ist abhängig von Bezugspersonen, die sie gut kennen, „lesen“ und interpretieren können. Nach Einschätzung im Rahmen der UK-Diagnostik befindet sich
Frau H. in ihrer kommunikativen Entwicklung noch am Anfang. Sie versteht bisher einfache Ursache-Wirkungsprinzipien, aber noch nicht, dass man symbolische Zeichen wie Gebärden, Bildkarten oder graphische Symbole zur Kommunikation einsetzen kann. Es fehlt den Mitarbeiter:innen in der Werkstatt und in der Wohngruppe an Ideen, wie man die Kommunikation von und mit Frau H. verbessern kann.

Frau H.‘s Sprachverständnis ist nicht genau ermittelbar aber offenbar eingeschränkt. Außerdem hat sie eine Hörbehinderung. Viele Informationen im Alltag bekommt sie nicht mit und ist dadurch oftmals orientierungslos. Sie braucht Menschen, die ihr Sicherheit und Struktur geben.

Frau H. hat ein junges emotionales Entwicklungsalter, etwa vergleichbar mit der Zeitspanne Geburt bis zum sechsten Lebensmonat. Hierbei ist zu beachten, dass das emotionale Alter nur ein Wert von vielen ist und nicht gleichzusetzen mit: „Frau H. ist wie ein Baby“!

Frau H. ist eine erwachsene Frau. Sie hat wie alle anderen Menschen das Recht auf Teilhabe und Selbstbestimmung. Sie hat jedoch in manchen Bereichen sehr basale Bedürfnisse: Sie braucht wenige, stabile Bezugspersonen, die ihr ständig Aufmerksamkeit geben und schnell ihre Bedürfnisse befriedigen. Sie kann sich noch nicht selbst regulieren, wenn sie Stress erlebt, z.B. weil sie warten muss. Auch bei der Regulation ist sie auf andere Menschen angewiesen.

Zusammengefasst können wir also sagen, dass Frau H. ein personell und strukturell passendes Umfeld benötigt, um ihren Alltag gut bewältigen zu können.

Herausfordernde Verhaltensweisen bei Menschen mit Komplexer Behinderung
Herausfordernde Verhaltensweisen bei Menschen mit Komplexer Behinderung

Ohne sicheres Umfeld keine sichere Kommunikation

Ein Blick auf die Biographie von Frau H. zeigt, dass die Realität eine andere ist. In der Schulzeit hatte Frau H. noch eine Schulbegleitung, die sie unterstützte. So konnten größere Krisen abgemildert oder ganz verhindert werden. Mit dem Übergang ins Erwachsenenleben kam es dann zu großen Veränderungen: Frau H. wohnt mit acht anderen Menschen zusammen. Dadurch stehen nicht nur ihre Bedürfnisse im
Mittelpunkt, sondern auch die ihrer Mitbewohner:innen. Jeden Tag muss sie sich auf andere Bezugspersonen einstellen, die nicht immer sofort zur Verfügung stehen. Auch in der Werkstatt ist Frau H. in einer Gruppensituation und hat wechselnde Bezugspersonen. Diese permanente Überforderung im Alltag hat die Ressourcen von Frau H. im Laufe der Jahre aufgebraucht. Es wird von ihr erwartet, Bedürfnisse aufzuschieben, sich selbst zu beschäftigen, soziale Gruppenregeln einzuhalten und vieles mehr. Aber das alles kann sie nicht.

Frau H. ist keine Ausnahme

In der Beratungsstelle Kommunikation & Verhalten (BeKoVe) der Lebenshilfe Köln treffe ich immer wieder auf Menschen wie Frau H. Menschen, die nicht nur einen hohen Unterstützungsbedarf haben, sondern auch unabdingbar ein sicheres und verlässliches Umfeld brauchen, um gut leben zu können. Menschen, die auf Routinen, Strukturen und vor allem stabile Beziehungen angewiesen sind, um sich auf
die Welt einlassen und teilhaben zu können.

Zu diesem Personenkreis zählen insbesondere Menschen mit einer Komplexen Behinderung, die motorisch kaum eingeschränkt sind, also z. B. gehen, sich Dinge nehmen, kratzen oder schlagen können. Dieses Verhalten wird von uns Bezugspersonen dann häufig als absichtsvoll und gezielt gedeutet. Das führt dazu, dass wir nicht erkennen, dass wir mit unseren Haltungen („Sie provoziert uns!“), Anforderungen („Sie muss dann zehn Minuten warten!“) und Erwartungen („Sie muss einsehen, dass ihr Verhalten nicht okay ist!“) zum Teil des Problems werden.

Es geht mir nicht um Schuldzuweisungen, sondern um die Entwicklung von Lösungen. Frau H. kann die Probleme nicht lösen. Aber wir können das. Allerdings nur gemeinsam: Als Angehörige und Teams, die kooperativ zusammen arbeiten. Als Vereine und Verbände, als Gesellschaft und Politik, die Barrieren beseitigen und einen passenden Rahmen schaffen. Es braucht uns alle, die nicht Teil des Problems, sondern Teil der Lösung sein wollen.

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