von Claudio Castañeda
Kurz und einfach
Der Artikel ist von Claudio Castañeda. Er arbeitet in der BeKoVe (Beratungs·stelle Kommunikation und Verhalten). In dem Artikel geht es um Menschen mit Komplexer Behinderung. Was brauchen sie, um mitbestimmen zu können? Claudio Castañeda schreibt: Es reicht nicht aus, einer nicht-sprechenden Person einen Talker oder Symbol-Karten zu geben. Zuerst muss die Person die Erfahrung machen, dass sie selbst etwas bewirken kann. Zehn Schritte zur Mitbestimmung sind am Ende des Artikels aufgezählt.
Über sich selbst bestimmen und in Gruppen mitbestimmen zu können, sind wichtige Voraussetzungen, um sich als aktiver Teil einer Gemeinschaft zu erleben. Allen Menschen diese Möglichkeit zu eröffnen, ist daher ein zentrales Thema der Inklusion. Im Zusammenhang mit Menschen mit Behinderung bedeutet das, bestehende gesellschaftliche Barrieren abzubauen und Zugänge für Mitbestimmung zu schaffen. Aber haben wir dann schon Mitbestimmung für alle erreicht?
Wer mitbestimmen möchte, muss von anderen gehört werden, braucht
also eine Sprache. Menschen, die nicht oder nicht ausreichend sprechen
können, benötigen alternative Kommunikationsformen der Unterstützten
Kommunikation (UK) wie z.B. Gebärden, Symbole oder Talker. Ist damit das
Problem gelöst?
Nicht ganz, denn oft reicht es nicht aus, der Person eine Kommunikationsform anzubieten. Viele Menschen
brauchen
erst einen Rahmen, der ihnen das Lernen ihrer UK-Sprache ermöglicht:
Dafür benötigt man viel Zeit, Vertrauen, natürliche Lernsituationen und
Bezugspersonen, die ebenfalls im Alltag mit der jeweiligen UK-Sprache
als Vorbild kommunizieren. Diesen Prozess nennt man auch Modelling (vgl.
Castañeda, Fröhlich & Waigand 2017).
Wenn wir ihnen diesen Rahmen bieten, haben dann alle Menschen Zugang zu Mitbestimmung? Noch nicht! Denn um mitbestimmen zu können, braucht es mehr als eine Sprache. Fangen wir daher mal ganz am Anfang an. Wie lernen wir „bestimmen“?
Bestimmen bedeutet, etwas oder jemanden zu beeinflussen. Babys machen in den ersten Wochen und Monaten ihres Lebens die Erfahrung, dass es Ursache und Wirkung gibt. Darauf aufbauend lernen sie, dass sie Verursacher sein können - also jemand, der aktiv beeinflusst. Manchen Menschen mit Komplexen Behinderungen fehlt genau dieses Wissen, selbst wenn sie schon lange kein Kleinkind mehr sind.
Frau K. ist 32 Jahre alt. Sie hat eine Komplexe Behinderung: Sie spricht nicht, versteht vieles nicht, sie kann nicht laufen und sich nur eingeschränkt bewegen. Frau K. ist in allen Bereichen ihres Lebens abhängig von anderen, die für sie bestimmen. Dadurch konnte sie kaum Erfahrungen sammeln, dass es Ursache und Wirkung gibt und sie diese beeinflussen kann. Mitbestimmung im großen Sinne ist von Frau K.s Lebensrealität weit entfernt.
Die erste Frage auf dem Weg zur Mitbestimmung könnte also lauten: Weiß die Person schon, dass es Ursache und Wirkung gibt?
In der Unterstützten Kommunikation kennen wir viele Möglichkeiten, diese Erfahrung zu unterstützen. Oft wird dabei klar getrennt zwischen Ursache-Wirkung bezogen auf ein Ding und bezogen auf einen Menschen. Das ist sinnvoll, weil es Menschen wie Frau K., die in ihrer Entwicklung noch ganz am Anfang stehen, oft schwerfällt, ihre Aufmerksamkeit auf zwei Aspekte (Mensch UND Ding) gleichzeitig zu lenken. Wir machen der Person somit das Lernen leichter.
Für Frau K. werden im Alltag Situationen geschaffen, in denen sie die Erfahrung von Ursache-Wirkung sammeln kann. Mittels Tasten können verschiedene Geräte aktiviert werden, die z.B. Licht oder Geräusche machen. Die Tasten sind so angebracht, dass Frau K. sie zufällig immer wieder aktiviert. Auf diese Weise macht sie die Erfahrung, dass immer, wenn die Taste gedrückt wird, etwas passiert, auch wenn sie ihre Umwelt noch nicht bewusst steuert. Gleichzeitig gestalten die Bezugspersonen nach dem Ansatz Intensive Interaction (vgl. Hewett 2023) Situationen so, dass Frau K. sie bewusst erleben und aktiv beeinflussen kann. Nicht die Bezugspersonen geben in diesen Momenten Angebote vor, sondern sie stellen sich komplett auf Frau K. ein und folgen ihr.
Die nächste Frage könnte sein: Weiß die Person schon, dass sie andere aktiv beeinflussen kann? Auch hier kennt die UK viele Angebote. Einen großen Ideenpool liefern die Interaktionsspiele (vgl. Mülling & Waigand 2023 und Mülling & Waigand 2024).
Frau K. wird in entspannten Situationen eine sprechende Taste angeboten, auf die „noch mal“ aufgesprochen wurde. Ihr werden nun immer wieder spannende und lustige Handlungen angeboten (die Bezugsperson singt, jubelt, klatscht, pustet Frau K. ins Ohr usw.), deren Wiederholung sie nun mit der sprechenden Taste einfordern kann: Die Bezugsperson jubelt, macht eine Pause und bietet Frau K. die sprechenden Tasten an. Drückt sie die Taste, jubelt die
Bezugsperson noch mal.
Im nächsten Schritt stellen wir uns die Frage, ob die Person bereits eine erste Auswahl aus zwei konkreten Angeboten in einer konkreten Situation treffen kann (Käse oder Wurst?) und ob sie etwas fordern oder ablehnen kann. Die Person fordert mit UK etwas und bekommt dies dann auch. Sie lehnt etwas ab und das passiert dann auch nicht. Darauf baut dann die nächste Erfahrung auf, dass man eine Entscheidung treffen, sich dann aber neu entscheiden kann.
Cedrick ist 15 Jahre alt und hat seit einigen Monaten einen Talker. Beim Frühstück fragt ihn seine Mutter, ob er Gurke haben möchte. Cedrick sagt mit dem Talker „nicht“. Kurze Zeit später nimmt sich seine Schwester Gurke und Cedrick schaut mit sehnsüchtigem Blick zu. Seine Mutter greift das auf und modelt „Ah, du möchtest jetzt AUCH GURKE!“.
Cedrick macht die Erfahrung, dass man erst etwas ablehnen und sich später neu entscheiden kann.
Wer das alles kann, der ist bereit, konkrete Entscheidungen sich selbst betreffend (T-Shirt oder Pullover?) und bezogen auf die direkte Gruppe (Ausflug ins Kino oder in den Park?) zu treffen. Während wir bisher versucht haben, positive Erfahrungen zu ermöglichen, geht es jetzt auch darum, verstehbar zu machen, dass Entscheidungen Konsequenzen haben - und das nicht immer unmittelbar.
Beim Anziehen entscheidet sich Cedrick für ein T-Shirt. Seine Mutter erklärt ihm, dass es draußen kalt ist und er noch eine Jacke anziehen soll. Cedrick verweigert das und seine Mutter gesteht ihm diese Entscheidung zu. Als sie rausgehen, merkt Cedrick erst nach einigen Minuten, dass es doch sehr kühl ist. Zum Glück hat seine Mutter nicht nur vorsorglich seine Jacke eingesteckt, sondern auch eine kleine visuelle Erklärung, die ihm den Zusammenhang zwischen seiner Entscheidung und der späteren Konsequenz vermittelt.
Erst wenn eine Person ausreichend Zeit und Gelegenheit hatte, all das zu erleben und die einzelnen Kompetenzen zu entwickeln, sind wir vermutlich so weit, uns nur noch mit den zwei Überlegungen vom Anfang auseinander zu setzen: Hat die Person eine Kommunikationsform, mit der sie aktiv in Gruppen mitbestimmen kann? Hat sie Zugang zu Mitbestimmung in Gruppen, Gemeinschaften und Gesellschaft und wie kann dieser gestaltet werden?
Um das große Ziel, allen Menschen Mitbestimmung zu ermöglichen, lebensnah für alle zu betrachten, müssen wir uns bewusst sein, an welcher Stelle die Person aktuell steht. Es ist sinnvoll, mit dem Schritt zu beginnen, der als nächstes für die Person ansteht.
Literatur:
Castañeda, C., Fröhlich, N. & Waigand, M.: Die UK-Ideenkiste. Modelling in der Unterstützten Kommunikation. Ein Praxisbuch für Eltern, pädagogische Fachkräfte, Therapeuten und Interessierte. UK-Couch (2017)
Hewett, D. (Hrsg.): Handbuch Intensive Interaction. Deutsche Ausgabe, übersetzt von L. Grans-Wermers, F. Hansen und S. Klug. Von Loeper Literaturverlag (2023)
Mülling, H. & Waigand, M.: Das ABC der Interaktionsspiele. Interaktionsspielesammlung unter Berücksichtigung erster Entwicklungsphasen. UK-Couch (2023)
Mülling, H. & Waigand, M: Die UK-Ideenkiste. Interaktionsspiele in der UK. Ein Praxisbuch für Eltern, pädagogische Fachkräfte, Therapeuten und Interessierte. UK-Couch (2024)
So erreichen Sie die Beratungsstelle für Kommunikation und Verhalten (BeKoVe):
BeKoVe@lebenshilfekoeln.de